«Das Ziel ist, dass sie gerne kommen.»
Mario begrüsst mich an der Tür mit einem freundlichen Lächeln. Bevor wir uns im Lehrerzimmer setzen, zeigt er mir die Räumlichkeiten.Man merkt, hier wird gelernt. An den Wände sind Fotos von Themenwochen, Weltkarten, Arbeitsflächen, die zeigen, woran die Schüler:innen arbeiten.
Die Beziehung als Basis
Wir setzten uns und Mario beginnt zu erzählen. «Ich bin durch Zufall an einer Sonderschule gelandet und wollte eigentlich nie mehr weg.» Der Grundschullehrer hat vor mehr als 20 Jahren, noch in Deutschland, den Heilpädagogen gemacht. Nun ist er seit zehn Jahren an der Tulpenstrasse Lehrer. «Ich unterrichte Deutsch und Mathematik.» Auf seiner Etage sind acht Schüler, aufgeteilt auf zwei Lehrpersonen. «Die Gruppenaufteilung machen wir nach der Ausflugswoche, wenn wir die Schüler etwas kennen. Da schauen wir auf die Altersstruktur.» Und es wird berücksichtig, wer sich versteht. Die Dynamik sei entscheidend, so Mario. «Wir tauschen manchmal auch Schüler, wenn es Spannungen gibt oder wir merken, einem Schüler geht es nicht gut.»
Die Wechsel seien manchmal herausfordernd, gehörten aber dazu wie das Lernen. «Unser Ziel ist, dass sie gerne zu uns kommen. Dafür müssen sie sich wohlfühlen können. Das andere ergibt sich von selbst.» Viele hätten die Lust an der Schule verloren aufgrund schlechter Erfahrungen an der Volksschule mit Lehrpersonen oder Mitschüler:innen. Die Kinder seien oft rausgestellt oder nicht beachtet worden. «Wir haben hier andere Möglichkeiten.» Viele der Kinder kommen zudem mit Lernschwierigkeiten und lückenhaftem Grundwissen. «Das aufzuarbeiten, ist eine Herausforderung. Darum braucht es zu Beginn einen guten Beziehungsaufbau. Ich kann im Unterricht und auf Beziehungsebene sehr individuell auf die Schüler eingehen.» Zum Beispiel, indem er das Anspruchsniveau realistisch setzt: «So merken sie, das kann ich; sodass es ein freudbetonteres Arbeiten ist.
«Wichtig ist, dass sie merken, das kann ich.»
Von den Themen her seien die Inhalte begrenzt. «Wir schaffen nicht dieselbe Quantität, das können wir als Schule nicht abdecken und auch Durchhaltewillen, Motivation und Ausdauer unserer Schüler sind begrenzt.» Darum wählt er Themen, die interessieren. «Wir bearbeiten Themen, die sie später im Alltag brauchen. Habe ich jemanden dabei, der auf dem Bau arbeiten will, schauen wir Grössen, Längeneinheiten, Prozent- und Bruchrechnen an. Und zwar ohne zu überfordern mit dem Ziel, dass sie das Thema im Grunde begreifen. Wir erarbeiten Inhalte sehr praxisbezogen.»
Voraussetzungen fürs Lernen
Das bedeute im Unterricht viel Kommunikation, so Mario. «Der Schüler hat seinen Lernplan vor sich und wir sind in einer Art Dialog. Wenn er eine Aufgabe ausrechnet, frage ich: Warum rechnest du das? Überleg mal, was bedeutet diese Zahl, was die andere? Wo brauchst du das im Alltag wieso? Sonst rechnet er das aus und fragt sich, wieso er das lernt.» Das darüber Reden mache die Themen begreifbarer und den Unterricht interessanter, erklärt Mario. «Lernspiele sind auch ein gutes Mittel, vor allem, um Inhalte zu festigen.» Inhalte und Themen gibt er vor. «Wenn ein Thema für einen Schüler aber besonders erfolgreich war, kann er zusätzlich daran arbeiten. Erfolge sind ein wichtiger Motivator», so Mario.
«Erfolge sind ein wichtiger Motivator.»
Diese ermöglicht er auch, indem er auf individuelle Voraussetzungen der Schüler eingeht. «Hier habe ich einen Lernplan liegen. Bei der Planung schaue ich; was hat er für ein Vorwissen, wie gross sind Motivation, Ehrgeiz und Wille, etwas zu lernen.» Teilweise wisse er schon, dass ein Thema für einen Schüler zu komplex sei. Dann stehe es zwar im Plan, «aber wenn ich nach den ersten Arbeitsblättern merke, das durchdringt er nicht, gehen wir weiter.» So werden die Pläne individuell durchgearbeitet. «Jeder braucht unterschiedlich viel Zeit. Zudem sind die Dossiers verschieden umfangreich.» Abgeschlossen werden diese dann mit einem Test.
Schön sei, dass sich die Schüler untereinander nicht vergleichen. «Da achten wir sehr drauf. Das hilft, Hemmungen abzubauen.» Etwa beim Vorlesen sei für die Schüler wichtig zu wissen, dass keiner lacht und dass er als Lehrer eine individuelle Erwartungshaltung zeigt. «Ich sage etwa, wichtig für dich ist mir, dass du versuchst, auf die Betonung zu achten. Jeder nach seinem Niveau», erklärt er. Die Schüler unterstützten sich auch gegenseitig. «Wenn ich einem Schüler eine Aufgabe stelle, die er nicht beantworten kann, frage ich auch mal in die Klasse, ob jemand einen Hinweis geben kann. Wenn sie etwas wissen, ist der Arm oben. Und manchmal kann dann auch ein Schüler helfen, der sonst nicht viele Antworten geben kann. Das bestärkt die Schüler und die Gruppe.»
Morgen ist ein neuer Tag
«Emotionale Instabilität ist bei vielen ein grosses Thema. Ich merke rasch, ob es den Schülern gut geht oder nicht. Einige Schüler sind am Morgen recht müde, sie gehen spät ins Bett und haben Schwierigkeiten, aufzustehen. Sie dann in den Tag zu bekommen und zu motivieren − das passiert alles auf der Beziehungsebene. Da reicht es nicht, Lehrer zu sein und Wissen zu vermitteln. Ich muss den Schüler auch greifen können.» Manchmal brauche es auch ein Gespräch. «Etwa, wenn sie einen Konflikt von zuhause in die Schule tragen. Hier sind auch unsere Sozialarbeiter:innen wichtig, die dafür geschult sind und mit ihnen Herausforderungen analytisch und lösungsorientiert angehen.»
Selten komme es vor, dass sich ein Schüler nicht beruhigen kann. «Es gelingt ihnen nicht immer, sich wieder zu sammeln und zu fokussieren. Es macht keinen Sinn, sie zusätzlich unter Druck zu setzen.» Solche Situationen werden dann am nächsten Tag nochmals reflektiert. «Wir geben viel Rückmeldung und besprechen mit ihnen, was nicht so gut lief.» Wichtig sind aber auch positive Rückmeldungen, betont Mario. «Dass wir sagen, schau, der Tag heute war wieder super. So kommst du deinen Zielen näher. So merken sie; ok, gestern ging es nicht so gut. Aber ich habe die Chance, es heute wieder besser zu machen.» Das Spüren dieses Zutrauens fehlte zuvor häufig. «Das ist mit ein Schlüssel, damit die Schüler wieder gerne kommen.»